Interview: Dirk Scharmer, deltagrün über das Projekt querbeet, Lüneburg

  • Anbietendes Unternehmen

  • Gemeinschaftswohnanlage querbeet in Lüneburg, 2024

    Innovationsschaufenster:

    Im Lüneburger Hanseviertel Ost entstand ein generationsübergreifendes Wohnprojekt mit 40 Wohneinheiten, viergeschossig, ein strohgedämmter Holzbau. Wie kam es zum Projekt?

     

    Dirk Scharmer:

    Das Projekt ist zusammen mit einem Projektentwickler entstanden, mit dem wir die Bauweise vorgegeben haben. Im Anschluss sind die eigentlichen Bauherren dazu gekommen. In diesem Projekt kommen zwei Prinzipien unserer Haltung zusammen.

    Wohnen im 21. Jahrhundert. Das bedeutet neue verdichtete Eigentums-Wohnformen, die ein hohes Maß an zwangloser Nachbarschaft und den privaten Rückzug- und Gestaltungsraum miteinander vereinen, anstelle Flächenressourcen im freistehenden Einfamilienhaus zu verbrauchen.

    So viel nehmen wie geben. Bedeutet nachhaltig leben und wirtschaften, um damit für nachfolgende Generationen die Lebensgrundlagen zu bewahren. Für das Bauen bedeutet dies den Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen (Strohballen für Dach- und Wanddämmung, Holz für für tragende Bauteile in Wand und Dach, Lehm für Wandoberflächen etc.) und umweltfreundliche Haustechnik und der Einsatz von regenerativen Energiequellen bis zu passiver Solarnutzung.

    Auf diesen Parametern basiert auch das Projekt querbeet, ein Wohnungsbau in Gebäudeklasse 4, der in einer direkt verputzten strohgedämmten Bohlenständerbauweise realisiert wurde (Außenwände im Detail: Bohlenständer 6x34cm im Abstand < 1,0m ausgefacht mit Baustroh gemäß ETA 17/0247, Innen Lehmputz 3cm, Außen Lehmputz 3cm plus Stülpschalung bzw. Kalkputz).

    Eine Besonderheit bei diesem Projekt ist der Brandschutz. Die vier- bis fünfgeschossigen Wohngebäude in Holzbauweise erfordern eine Feuerwiderstandsdauer von mindestens 60 Minuten und die Verwendung nichtbrennbarer Dämmstoffe. Um diese Anforderung für die Kombination Holz-Stroh-Putz erfüllen zu können, wurde das Tragwerk so konzipiert, dass der vertikale Lastabtrag über die Innenwände und einzelne Stützen erfolgt und die Aussteifung des Gebäudes gegenüber den Horizontallasten über die Geschossdecken realisiert wird. Die Außenwände sind somit nicht tragende Bauteile, woraus sich eine auf „feuerhemmend“ reduzierte Brandschutzanforderung ergibt. Die Schutzziele aus den Normen einzuhalten ist oberste Prämisse, doch mit einem klugen, ganzheitlich gedachten Brandschutzkonzept ergeben sich Spielräume, die es auszunutzen gilt. Wie im Projekt querbeet die Planung als nichttragende Fassadenelement, was hinsichtlich der Brennbarkeit bedeutet, dass Dämmstoffe normal entflammbar ausgeführt werden dürfen – womit der Baustoff Stroh diese Anforderung erfüllt. Bedeutet: Baustrohballen können nach sorgfältiger Herstellung und die werkseigene Produktionskontrolle in die Baustoffklasse ’normalentflammbar‘ E nach EN 11925-2 eingestuft werden, was die Mindestvoraussetzung zur Anwendung als Baustoff ist. Auch die in der neuen Musterrichtlinie Holz festgelegten Verringerungen von 400 auf 150 Quadratmeter Größe pro Nutzungseinheit kann Spielräume ermöglichen. Es ist eine Frage der Zusammenarbeit, wie man abseits vom Standard sozusagen auf Umwegen die gleiche Qualität, das gleiche Sicherheitsniveau erreicht.

     

    Innovationsschaufenster:

    Ohne Kompromisse?

     

    Dirk Scharmer:

    Das ist eine Frage der Herangehensweise. Wir starten nicht mit einem Standard-Gebäude bei dem wir dann sukzessive herkömmliche Lösungen gegen nachhaltige Bauteile austauschen. Unser Ausgangsgebäude ist zunächst maximal nachhaltig, mit biogenen Baustoffen und gehen dann, nur da wo es nicht anders geht konventionelle Wege. Beim Projekt querbeet ist das zum Beispiel das Treppenhaus aus Stahlbeton. Hätte man auch als gekapselte Holzkonstruktion ausführen können, aber dann hat man wieder das Problem mit der Befestigung der Treppenläufe, die aufwendig durch die Brandschutzbekleidung geführt werden müsste. Auch die Gründung ist aus Stahlbeton. Früher haben wir experimentiert, wie wir Fundamente anders konstruieren können, aber der Weg in die Realität bzw. die Begegnung der realen Anforderungen, Schutzzielen oder eben auch der Wunsch nach Haltbarkeit und Dauerhaftigkeit führt zu konventionellen Ausführungen so lange noch keine alternativen Lösungen / Produkte zur Verfügung stehen. Aufgrund der im Baugebiet festgeschriebenen Stellplatzschlüssel mussten wir auch eine Tiefgarage bauen. Oder der Schallschutz. In den ersten Projekten wurde der Dielenboden direkt auf eine Schüttung auf den Holzbalkendecken aufgelegt, anstelle der schweren Estrichschicht, auf der man barfuß ungern läuft. Leider mussten wir feststellen, dass wir damit einen hochwertigen Trittschallschutz nicht erreichen. Die große Herausforderung ist es ein nachwachsendes Material zu finden, das beides erfüllt – Schallschutz, Brandschutz und Nachhaltigkeit ohne Verklebung etc. Ein anderes Beispiel sind die Decken. An sich will man mit den Ressourcen effizient umgehen, z.B. durch eine Holzbalkendecke. Wegen dem Brandschutz darf es keine Hohlräume in den Decken geben bzw. nur mit nichtbrennbaren Materialien verfüllt sein, die wiederrum einen schlechten ökologischen Fußabdruck haben. Also ist die Lösung auf Massivholzdecken zu setzen (Detail Decken: unterseitig K30-Kapselung mit 18mm Gipsfaser, 200mm Brettsperrholz (CLT), 10mm Gipsfaser, 100mm Kalksplitt, 40mm Trittschalldämmung, 60mm Estrich m. Fußbodenheizung, 12mm Eichenparkett / Fliesen).

    Umdenken kann man aber auch im Grundriss. Wer sagt, dass Technik- und Abstellräume immer im Keller sein müssen? Durch gut geplante Grundrisse können in und außerhalb der Wohnungen an den Fluren Abstellmöglichkeiten eingeplant werden, die im Idealfall den Ruf nach dem CO₂-intensiven Kellergeschoss obsolet machen.

     

    Innovationsschaufenster:

    Die Komplexität des Ganzen ist angekommen. Wir müssen möglichst radikal handeln, heißt es – wie meinen Sie das?

     

    Dirk Scharmer:

    Wir sollten den natürlichen Kreislauf von Pflanzenwachstum, die stoffliche Kaskade, nutzen. Und so dafür sorgen, dass die heutigen Gebäude, die neu gebaut werden, kompromisslos zerlegbar, trennbar und wiederverwendbar sind. In Bauteilen dann, das heißt über Verbindungen nachzudenken. Was muss geschweißt werden, wenn es Metall ist? Was muss geklebt? Muss das geklebt werden?

    Wir haben eine vergleichende Ökobilanz gemacht, in dem wir das Treibhauspotential eines Einfamilienhauses in Strohbauweise und in Massivbauweise vergleichen (Ökobaudat 2016, erstellt auf bauteileditor.de). Der Vergleich zeigt auf, dass man ein strohgedämmtes Holzhaus bauen und (theoretisch) mit dem Verbrenner-Auto 20mal um die Erde fahren kann, bis die Klimaschädlichkeit, allein der Herstellung des gleichen Gebäudes mit zweischaligem Mauerwerk erreicht ist. Egal mit welchem Energieträger dann die Betriebsenergie erzeugt wird, die Zahlen sprechen nur für die grauen Emissionen der Herstellung. Mit unserem Fokus auf maximal billige Bauweisen wird nur die Spitze des Eisbergs angesehen. Die volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten, die unter dem Eisberg entstehen, in Form von Emissionen und Ressourcenverbrauch, werden nicht betrachtet. Und das ist das verrückte, nur weil es im ersten Schritt um ein paar Prozent günstiger ist, wird nicht der sinnvolle Weg gegangen. Es ist immer noch ein Narrativ der heutigen Zeit, dass Wohneigentum Sicherheit schafft. Mit den konventionellen Wegen wird das nicht weiter funktionieren, aber die nachwachsenden Rohstoffe können eine gute Rolle in der Zukunftserzählung werden.

    Das ist ein Appell sich an die eigene Nase zu fassen und dort, wo man etwas ändern kann, die Verantwortung dafür zu übernehmen.

  • Ort

    Lüner Weg 23

    21337 Lüneburg

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  • Kontakt

    Dirk Scharmer

    Dirk Scharmer, Architekt; Inhaber deltagrün Architektur GmbH; Gründer des Fachverband Strohballenbau Deutschland e.V.; Gründer der Fa. Baustroh, der ersten deutschen Baustrohballenproduktionsfirma; Leitende Mitarbeit an insgesamt drei Forschungs- und Entwicklungsvorhaben zum Strohballenbau

  • Datum

    Angebot vom 2. April 2024, 18:08 Uhr
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